Zwischen Phantasie, Vielfalt und Beliebigkeit - Stadtteilkultur in Hamburg

1. Die Sache mit Richard

Stellen Sie sich bitte einmal einen kleinen Hühnerhof mitten im Altbauquartier des Stadtteils Ottensen in Hamburg vor; Ottensen ist innerstädtisches Gebiet. Der Hahn - es gibt ihn wirklich! - heißt Richard und lebt in einer kleinen Schar von ca. 12 Hühnern gehegt von einer Initiativgruppe des Stadtteilkulturzentrums Motte. Seit Monaten sorgen diese Hühner täglich nicht nur für frische Eier, die in der Nachbarschaft gerne verzehrt werden, sondern auch für eine lebhafte Diskussion zu innerstädtischen Wohnqualitäten, Stadtentwicklung und Bürgerbeteiligung, da hühnerfeindliche Mächte an Stelle des Idylls gerne neue Wohnungen bauen möchten. Sehen Sie auch die lauschige Sitzecke, von der aus das Treiben im Hühnerhof beobachtet werden kann? Prägen Sie sich das Bild gut ein, denn wir machen jetzt einen Sprung über die Alster - Hamburgs wunderschönem Binnensee - und sehen in einem anderen Stadtteil eine Menschenmenge, die dicht zusammengedrängt vor einem Mietshaus steht und wie gebannt zu einem Balkon im 1. Stockwerk hochschaut. Nein, keine Katastophe oder Unfall mit neugierigen Gaffern, sondern eine Theateraufführung. Gespielt wird "Leonce und Lena" von Georg Büchner in einer sehr freien Bearbeitung der "Winterhuder Shakespeare Company". Akteure sind sowohl professionelle Schauspieler als auch theaterbegeisterte Menschen aus dem Stadtteil, die das Bühnenstück zu einem schrillen Straßentheater-Umzug umgearbeitet haben. An drei Tagen folgen mehrere hundert Menschen der Theatertruppe durch Straßenschluchten und Hinterhöfe, über Balkone und Plätze. Wir könnten jetzt weitere Sprünge machen, die uns eine verwirrende Vielfalt stadtteilkultureller Aktivitäten und Aktionen aus verschiedenen Hamburger Bezirken vor Augen führen würden: Menschen, die ihre gestalterischen Fähigkeiten z.B. in einer Siebdruckwerkstatt ausprobieren; Menschen, die angeregt im Austausch mit Vertretern ethnischer Minderheiten über Perspektiven eines interkulturellen Dialogs diskutieren; Menschen, die fasziniert vor alten Bildern aus ihrem Stadtteil stehen, ausgestellt in den Räumen einer Geschichtswerkstatt oder Menschen, die in einem Stadtteilkulturzentrum zur Musik einer jungen Rockband die Nacht durchtanzen. Bevor ich Sie nun aber mit weiteren Ausschnitten gänzlich verwirre, sollten wir den Versuch machen, in einem kleinen Exkurs zur Entwicklung kulturpolitischer Konzepte bzw. von "Stadtteilkultur" - oder allgemeiner: "Soziokultur" - einen Rahmen zu konstruieren, der uns etwas Halt gibt.

2. Kultur für alle - alles Kultur?

Noch bis in die 60-er Jahre hinein war die bundesdeutsche Kulturdebatte vom Selbstverständnis geprägt, daß Kulturpolitik der traditionellen Kunst- und Heimatpflege dienen müsse und zur Absicherung bekannter Kulturinstitutionen wie Theatern, Opernhäusern, Museen und Symphonieorchestern beizutragen hätte. Aktuelle gesellschaftspolitische Fragen und Problemstellungen blieben eher ausgeblendet. Der Wandel vollzog sich mit großer Energie in der Nachfolge der 68-er Studentenbewegung und läßt sich möglicherweise mit dem Wahlkampfmotto Willy Brandts aus dem Jahre 1972 illustrieren: "Mehr Demokratie wagen!" Mit diesem Slogan fühlten sich nicht nur zahlreiche Kulturschaffende in ihrem Unmut im Umgang mit patriarchalischen, hierarchischen Kulturbetrieben angesprochen. Vielmehr begann eine Debatte, mit der sowohl das begriffliche Bezugssystem für Kulturpolitik überhaupt als auch die Ausprägung von Förderschwerpunkten in Bewegung geriet. Hermann Glaser - ein wichtiger Kulturpolitiker in dieser Zeit - formulierte sinngemäß: "Was uns fehlt, ist eine Soziokultur, die die Integration der Kultur in den gesellschaftlichen Raum bejaht. Kultur ist etwas, was man wie soziale und politische Probleme ungeniert anpacken kann und soll, und keine Walhalla, der man sich devot zu nähern hätte". Kulturpolitik sollte sich als Gesellschaftspolitik entwickeln mit den erklärten Zielen, Kunst und Kultur einer breiteren Bevölkerung zugänglich zu machen (kulturelle Chancengleichheit/ kulturelle Demokratie) und auch das Spannungsverhältnis zwischen entwickelter künstlerischer Produktion und Alltagskultur neu definieren. Das kreative Potential Einzelner sollte herausgefordert werden und sich mit gesellschaftspolitischer Anteilnahme verbinden. Die Formel lautete: "Kultur für alle von allen".

3. Kultur in Bewegung

Aus dem allgemeinen Aufbruchklima dieser Jahre entstanden bundesweit zahlreiche Initiativen, die mit je eigenen Themenschwerpunkten auch als neue soziale Bewegungen beschrieben werden. Zahlreiche Künstler trugen mit ihrem Engagement zur Herausbildung eigener kultureller Mileus bei. Medienwerkstätten, über die in den nächsten Tagen noch an anderer Stelle berichtet wird, verstanden sich als Teil der Anti-Atomkraft- und Mieterbewegung. Filmclubs waren nicht nur Foren zur Erörterung einer neuen Filmsprache, sondern auch Diskussionszirkel zur Dritte-Welt-Problematik und freie (d.h. nicht an ein festes Haus gebundene) Theatergruppen experimentierten mit neuen Themen, Formen und Spielorten. Neue Treffpunkte für kulturelle Ereignisse kristallisierten sich heraus. Dazu gehörten ganz wesentlich auch die soziokulturellen Zentren, die - wie die Hamburger FABRIK in ihren Anfängen im Jahr 1971 - Menschen aus den neuen sozialen Bewegungen mit Künstlerinnen und Künstlern unterschiedlicher Sparten zusammenbrachten. Damit wären wir wieder in Hamburg angekommen und ich möchte darlegen, wie die Idee der "Kultur für alle von allen" auch im Sinne kulturpolitischer Akzente bei uns aufgenommen wurde.

4. Stadtraum - Lebensraum

Neben der schon genannten Hamburger FABRIK entwickelten sich in den 70-er Jahren zahlreiche stadtteilbezogene Initiativen, die sich räumlich entweder in alten Fabrik- und Gewerbebauten ansiedelten (Honigfabrik, Motte oder goldbekHaus) oder auch kleinere Läden mit neuem Leben erfüllten, die von ihren ehemaligen Inhabern aufgegeben wurden. Diese "Besetzung" alter Gewerbeflächen war nicht nur ökonomisches Kalkül im Hinblick auf billige Mieten oder einer besonderen Ästhetik geschuldet, sondern immer auch ein offensiver Ansatz, den im Wohnquartier spürbaren sozialen Wandel zur Grundlage von Programmaktivitäten zu machen und mit der Rückgewinnung von ausgestorbenen Gewerbeflächen einen Teil zur Reurbanisierung innerstädtischer Gebiete beizutragen. So geht es nicht um neue illustre Treffpunkte einer spezifischen Alternativszene, sondern um die Frage, wie beispielsweise Mieterinitiativen in ihrem Engagement für billige Wohnungen unterstützt werden können, wie im verdichteten innerstädtischen Raum anregende Spiel- und Freizeitmöglichkeiten bzw. kulturelle Angebote für Kinder und Jugendliche entwickelt werden können, wie ethnischen Minderheiten Möglichkeiten eröffnet werden können, sich außerhalb einer kleinen 2-Zimmer-Altbauwohnung kulturell zu entfalten, wie das ständig wachsende innerstädtische Verkehrsproblem unter Beteiligung von Anwohnern wohngebietsbezogen aufgegriffen werden kann, ja wie im weitesten Sinne der öffentliche Raum als gestaltbarer Lebensraum zurückerobert werden und zum Bezugsfeld einer ästhetischen Praxis werden kann. Eine Initiative "von unten" zur Behebung der Krise der Städte, wie sie in den 70-er Jahren breit diskutiert wurde.

5. Förderkriterien der Kulturverwaltung für Stadtteilkultur in Hamburg

Hier setzt 1977 in Hamburg zunächst die Innenbehörde mit dem neuen Referat für Freizeitpolitik an. Dessen Aufgabe war, knapper werdende Flächen, Räume und Finanzen der Stadt so aufeinander abzustimmen, daß den Bürgerinnen und Bürgern im Wohnumfeld angemessene Freizeitmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Die 104 Stadtteile in Hamburg bildeten dabei mit ihrer z.T. aus dörflicher Geschichte gewachsenen Zusammenhängen die Grundlage für die Förderung einzelner Maßnahmen. Der Stadtteil erschien den Planern am ehesten geeignet, identifizierbare kulturelle Milieus zu entwickeln. 1978 wurde die Förderung der Stadtteilkultur dann zu einem Schwerpunkt Hamburger Kulturförderung erklärt, ein Jahr später das gerade benannte Referat in die Kulturverwaltung eingegliedert. Um den verschiedenen bis dahin aktiv gewordenen stadtteilkulturellen Initiativen gerecht zu werden und nachvollziehbare Förderungen zu gewähren, formulierte man Förderkriterien, die bis heute Gültigkeit haben. Die Kulturverwaltung ging dabei davon aus, daß es wichtiger sei, ein Netz von sehr verschiedenartigen, von Initiativen geprägte Einrichtungen zu fördern, auf die Handlungskompetenz aktiver Bürgerinnen und Bürger zu vertrauen und nicht - wie in Nürnberg - einen bestimmten Typ von Kulturladen oder -zentrum zu favorisieren. In der Hamburger Praxis hat das immer auch bedeutet, aus sehr unterschiedlichen Milieus hervorgegangene Initiativen in ihrem Engagement zu unterstützen: Familien- und bildungsorientierte Gruppen in bürgerlichen Stadtrandgebieten neben stadtpolitisch ambitionierten innerstädtischen Initiativen. Die Förderkriterien lauten: 1. Um ein Stadtteilkulturzentrum zu gründen, muß eine engagierte Initiative vorhanden sein. 2. Die Initiative muß ein "integratives Konzept" haben, d.h. ihre Arbeit darf nicht nur auf eine soziale Gruppe (z.B. Ausländer) oder eine Altersgruppe (z.B. Jugendliche) gerichtet sein. Sie darf auch nicht nur eine Art von Angebot machen (z.B. kulturelle Veranstaltungen, kreative Werkstätten, Sport usw.). 3. Die Arbeit der Initiative muß stadtteilbezogen sein. Sie muß sich an den Bedürfnissen der Bürger im Stadtteil orientieren. 4. Das Konzept der Initiative muß "offen" sein, d.h.: sie muß die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen im Stadtteil und mit anderen Einrichtungen (z.B. Bücherhallen, Haus der Jugend usw.) suchen. 5. Im Stadtteil müssen Gebäude oder Räume verfügbar sein, die sich für die Arbeit der Initiative eignen. 6. Als Träger eines Stadtteilkulturzentrums muß die Initiative nachweisen, daß sie imstande ist, einen nennenswerten Teil der notwendigen Mittel aus eigener Kraft durch Mitgliedsbeiträge, Spenden, ehrenamtliche Arbeit usw. aufzubringen. Besonders hervorzuheben ist bei der Einschätzung dieses Rahmens, daß hier erstmalig ressortübergreifendes Denken in öffentlicher Förderung festgeschrieben und ein neues Spannungsfeld zwischen sozialen, politischen und ästhetischen Kategorien aufgezeigt wurde. Aber auch wenn diese Kriterien als mit bester Absicht auf ein bestimmtes Initiativmilieu zugeschnitten erscheinen, sind sie doch in der letzten Zeit häufiger von Gruppen aus der Soziokulturszene in Frage gestellt worden. So wird zur "Initiative als Vorbedingung für Förderung" angemerkt, daß gerade in vielen Neubaugebieten, in denen sich bisher keine Initiativszene herausbilden konnte, Kulturarbeit auch unabhängig davon finanziert werden müßte. Die benachbarte Großstadt Bremen z.B. geht hier andere Wege und fördert professionell inititierte, dezentrale Kulturprogramme in Vorstadtsiedlungen. Sehr engagiert werden abweichende Meinungen auch zum zweiten Kriterium - Arbeit mit einem integrativen Konzept - vertreten. Tatsächlich haben sich einzelne Einrichtungen in den letzten Jahren in bestimmten Bereichen spezialisiert bzw. einzelne Teilbereiche haben sich aus der Basisinitiative herausgelöst und verselbständigt. Projekte, die sich von vornherein auf bestimmte Kultursparten oder Angebotsformen beschränken möchten, haben es schwer, sich durchzusetzen. Das heißt im Umkehrschluß natürlich nicht, daß bei Erfüllung aller Vorbedingungen ohne Probleme auch Finanzen bereitgestellt werden können. Ein Beispiel dafür ist das Projekt "Rote Flora", ein von jungen Leuten besetztes ehemaliges Revuetheater. Ursprünglich sollte es dem Neubau eines Musicaltheaters - der "Neuen Flora" - weichen, aber der Protest von Anwohnern, die eine schleichende Verdrängung aus billigen Altbauwohnungen fürchteten und die Ausdauer der Besetzer haben die Ansiedelung verhindert. DasMusicaltheater wurde zwischenzeitlich an anderer Stelle gebaut und ist mit dem "Phantom der Oper" schon einige Zeit erfolgreich am Markt. Um die "Rote Flora" streiten sich bis heute verbissen verschiedenste Vertreter der Kommunalpolitik und Landesregierung und notdürftig hält die Inititiative mit vielen engagierten Freunden und Spendengeldern einen improvisierten Kulturbetrieb aufrecht. Das Geld ist knapp geworden in öffentlichen Kassen - nicht nur in Hamburg!

6. Spezialisten im Dschungel

Da tröstet auch die Tatsache nicht, daß seit 1979 die Förderung für Stadtteilkulturzentren und -läden aus dem Kulturhaushalt um das 24-fache auf 1993 zusammengerechnet DM 7.412.000,- gestiegen ist. Die Gesamtförderung in diesem Bereich macht bis heute nicht mehr als 2-3% des Kulturhaushaltes aus. 25 sehr verschiedene Kulturzentren werden davon in ihrer laufenden Arbeit mit Beträgen zwischen 50 und 800.000,- unterstützt. Darüberhinaus besteht die Möglichkeit, für Einzelprojekte bzw. einzelne Veranstaltungen Zuschüsse aus einem Globalfond zu beantragen, der 1994 ein Volumen von ca DM 700.000,- hatte. Aus einem weiteren kleinen Fond finanzierte die Kulturbehörde mit DM 150.000,- jährliche Sondervorhaben wie die "Kulturaktion" oder spezielle Fortbildungsmaßnahmen. Das Finanzierungssystem verzweigt sich in der Alltagspraxis vieler Kulturzentren noch weiter in einzelne Facetten regionaler, bezirklicher Finanzmittel. Ich will Ihnen aber die Details ersparen. Fachleute aus der Szene haben versucht, in einer Broschüre die verschiedenen Finanzierungswege aufzuzeigen. Als Titel für ihre Veröffentlichung wählten sie: "Das Dschungelbuch"! Bedeutsam finde ich an dieser Stelle eher den Hinweis, daß auch der Kulturhaushalt seit 1979 Ausdifferenzierungen bezogen auf die Entwicklung unterschiedlicher kultureller Initiativszenen und Milieus mitgemacht hat. So gibt es inzwischen neben der Stadtteilkulturförderung eigene Fördertitel für Frauenkultur (über die an anderer Stelle noch berichtet wird), Geschichtswerkstätten und Ausländerkulturinitiativen. Dabei zeigt z.B. die Entwicklung der Geschichtswerkstätten, zu deren Arbeit ich ebenfalls einiges Dokumentationsmateriel mitgebracht habe, wie sich interessierte Kleingruppen aus einer größeren Stadtteilkulturinitiative herauskristallisieren und als "Stadtteilarchiv Bramfeld", "Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg" oder "Stadtteilarchiv Ottensen" eine eigene Identität entwickeln. Dabei darf der Stadtteilbezug in der Namensgegebug nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier auch allgemeiner Zeitgeschichte - z.B. dem Nationalsozialismus - auf regionaler Ebene nachgespürt wird. Die Werkstätten haben neue Ansätze von "Spurensicherung" im eigenen Viertel entwickelt und stoßen mit ihren "Stadtteilrundgängen" auf reges Interesse im Stadtteil. Aber auch von überregionalen Museen und Archiven bzw. von Zeitungsredaktionen werden die lokalen Archive immer häufiger zur Beschaffung bestimmter Materialien angesprochen. Der Professionalisierungstrend ist spürbar. Das Fördervolumen lag 1993 bei insgesamt DM 1.100.000,- für ca. 14 verschiedene Gruppen. Der Blick in Übersichten zu öffentlicher Finanzierung allein erzeugt dabei natürlich kein vollständiges Bild über die Vielfalt kultureller Initiativen in Hamburg. Zahlreiche Gruppen arbeiten nur für einzelne Aktionen zusammen und gehen dann wieder auseinander. Andere stützen ihre Aktivitäten vollständig auf eigene Energien (d.h. auch Finanzen) und sind demnach auch in keiner offiziellen Statistik zu finden. Zu bestimmten Anlässen veröffentlichte Adreßverzeichnisse (z.T. auch von der Kulturbehörde gefördert) geben dann einen kleinen Einblick in einzelne Szenen. So habe ich für Interessierte einige Übersichten zu Aktivitäten von Einwanderergruppen mitgebracht, die sich immer wieder mit spannenden Programminitiativen zu Wort melden. Aber zurück zu den Stadtteilkulturzentren- und Initiativen.

7. Das "goldbekHaus" in Hamburg/Winterhude

Als nächstes wollen wir uns veranschaulichen, wo wir uns Hamburg gerade befinden. Sie haben hoffentlich Verständnis dafür, daß ich für diesen Teil meines Beitrages das "goldbekHaus" gewählt habe. Ich arbeite in dem Zentrum als Koordinator. Zunächst einige Daten zum Wohnumfeld: Der Bezirk Nord hat mit ca. 5.000 Einwohnern pro Quadratkilometer die größte Einwohnerdichte in Hamburg. Dieser Durchschnittswert erhöht sich insbesondere in den südlichen Stadtteilen durch hochverdichtete Bauweise. Das unmittelbare Umfeld des goldbekHauses besteht z.T. aus alten Arbeiter- und Angestelltenwohnungen - gebaut um die Jahrhundertwende - und Wohnblocks, die in den 20-er Jahren bzw. nach dem 2.Weltkrieg gebaut wurden. Die westliche Begrenzung des Stadtteils zum Alsterufer hin bilden zahlreiche schicke Villen, die im harten Kontrast mit der eher proletarischen Industriegeschichte des restlichen Quartiers stehen. Das goldbekHaus selbst ist ja eine der im ausgehenden 19. Jahrhundert angesiedelten Fabriken. Ca. 30.000 Bewohner lassen sich dem unmittelbaren Umfeld zurechnen. Zahlreiche junge Kleinfamilien, größere Familienverbände von Einwanderern und Flüchtlingen, viele alleinstehende ältere Menschen und Studentinnen und Studenten bestimmen das lebendige Straßenbild in Winterhude. Die noch in den 60-er Jahren geplante Flächensanierung in diesem Stadtbereich konnte verhindert werden und so hat sich - trotz immer stärker werdendem Verdrängungswettbewerb durch Umwandlung in Eigentumswohnungen (Gentrification) - eine Mischung aus Wohnhäusern, Geschäften für den täglichen Bedarf, Dienstleistungseinrichtungen und Kleingewerbe halten können. Verdichtete Bebauung und zu geringer "Spielraum" für Kinder und Jugendliche war Anfang der 70-er auch ein zentrales Gründungsmotiv für die Initiative um das goldbekHaus. Schon vor Einzug in das auch heute noch genutzte Fabrikgebäude war die Initiative aktiv und organisierte Stadtteilfeste, sorgte für kreative Werkstätten, die in den Räumen befreundeter Einrichtungen wie Kirchengemeinden, Schulen und Öffentlicher Bücherhalle durchgeführt wurden und entwickelte eine Lobby, die auf die Umnutzung der alten Chemiefabrik am Goldbekkanal als Kulturzentrum zielte. Der Erfolg dieser Initiave ist mit der Eröffnung des Stadtteilkulturzentrums goldbekHaus im Herbst 1981 dokumentiert. Wie sieht das goldbekHaus heute aus?

8. Werkstattbühne goldbekHaus

Wir unterscheiden zwischen Programmen für bestimmte Zielgruppen (Kinder, Jugendliche und alte Menschen) und Programmen, die in bestimmten Sparten für alle erwachsenen Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Stadtteil gedacht sind. Über Angebote in bestimmten Kultursparten und im Bereich kultureller Bildung/künstlerischer Techniken hinaus sind das auch zahlreiche sportliche Aktivitäten. Neben den eigenen Programmen, die wir in einem professionellen Team durchführen unterstützen wir immer wieder auch Gruppen, die als selbstständige Initiative in unseren Räumen arbeiten. Als Beispiele nenne ich hier die "Grauen Panther" - eine Gruppe von engagierten Alten, die sich mit Lebensperspektiven im Alter beschäftigen - oder das "Verkehrsplenum Winterhude", deren Engagement auf die Reduzierung des Durchgangsverkehrs abzielt zugunsten von Grün- und Spielflächen. In der Form stehen offene Treffpunkte (insbesondere für Kinder und Jugendliche) neben Einzelveranstaltung (Theater, Musik, Film, Literatur), Kursen und Projekten bzw. Produktionen. Zur Durchführung der jeweiligen Angebote nutzen wir nicht nur eigene, sondern auch die Räume von benachbarten Einrichtungen (Öffentliche Bücherhalle, Kirchengemeinde, Schulen). Die aktuelle Programmzeitung - sie liegt ebenfalls hier aus - vermittelt Ihnen einen Überblick. Einige Bilder mögen das Spektrum veranschaulichen.

9. Innensicht "goldbekHaus"

Strukturdaten sollen das Bild an dieser Stelle abrunden: Das goldbekHaus bietet auf 800 Quadratmeter über drei Etagen Werkstätten für die Bereiche Foto, Siebdruck, Keramik und Holz, Gruppenräume, die multifunktional genutzt werden können, eine kleine Mehrzweckhalle und ein Restaurant. Über das Jahr gerechnet zählen wir rund 100.000 Besuche in unseren Räumen. Das professionelle Team besteht aus 11 sehr unterschiedlich ausgebildeten Kolleginnen und Kollegen, die überwiegend auf Teilzeitbasis zwischen 25 und 35 Stunden pro Woche arbeiten. Die Qualifikationsbreite reicht von Theaterpädagogik über die Sozialarbeiterausbildung bis hin zu betriebswirtschaftlichen Qualifikationen. Zahlreiche freiberufliche Lehrkräfte und Künstler arbeiten in einzelnen Projekten und Gruppen mit. Wir bewirtschaften ein Volumen von ca. 1.100.000,- Millionen Mark. Davon sind ein Viertel Eigeneinnahmen aus Veranstaltungen, Vereinsbeiträgen, Kursgebühren und Pachteinnahmen aus dem Gastronomiebetrieb. Der Rest wird als Zuschuß aus der Stadtteilkulturförderung gewährt. Dieses Bild eines professionellen Dienstleistungsbetriebes muß korrigiert werden mit dem Hinweis darauf, daß das Fundament immer noch von ca. 560 Vereinsmitgliedern gebildet wird, die sich z.T. in einzelnen Programmen als auch mit einem kleineren Kreis in der Selbstverwaltung des Hauses engagieren. Immer wieder sind es auch Impulse aus dem Wohnumfeld, die zu neuen Programmen anregen. Als größeres Bauprojekt steht uns dabei seit einiger Zeit der Umbau der restlichen alten Fabrikfläche im Hof zu Künstlerateliers vor Augen.

10. Soziokultur/Stadtteilkultur in der Diskussion

Zum Abschluß möchte ich versuchen, einige kritische Anmerkungen zur Gesamtentwicklung soziokultureller Zentren und Initiativen für das weitere Gespräch zusammenzufassen: Das Motiv "Kultur für alle von allen" verpflichtet zu Viel, kann aber in der Alltagspraxis nur eingeschränkt wirksam werden. Nicht, daß sich nur eine bestimmte, mittelschichtorientierte Szene mit ihren Bildungsinteressen in den Zentren und Initiativen artikulieren und seiner Selbstverwirklichung nachgehen würde - ein häufig genanntes Vorurteil. Es ist eher umgekehrt zu beobachten, daß sich Interessenlagen und Lebenslagen ganz allgemein zunehmend ausdifferenzieren und im Hinblick auf Teilnahme aus den unterschiedlichsten sozialen Gruppen eine gezielte Auswahl im Angebot stattfindet. Darüberhinausgehendes Engagement für die Entwicklung des Gesamtprojekts ist eher zurückgegangen. Das ist einerseits ein Ergebnis von Institutionalisierungsprozessen, andererseits sicher auch damit zu erklären, daß sich das politische Aufbruchsklima der 70-er Jahre mit dem "Demokratisierungsgebot" zugunsten einer im politischen Sinne eher unbestimmten Großwetterlage verändert hat und tendenziell abseits politischer Bezugssysteme und Strukturen nach individuellen Spielräumen zu kultureller Entfaltung gesucht wird. Die bunte Palette des Erlebnismarktes bzw. seine mediale Verfügbarkeit hat weitgehend quer durch alle sozialen Schichten für eine Auflösung - oder ist es eher eine Neugruppierung? - traditioneller Zielgruppen einer sozialintegrativen "Kultur für alle von allen gesorgt". Hier greift die nächste Kritik: Der soziokulturellen Bewegung fehlten neue Utopien und sie würde sich in ihren bürokratischen Dienstleistungsunternehmen am Freizeitmarkt verschanzen - so einige Kritiker. Tatsächlich ist es eine schwierige Gratwanderung, wenn man zwischen gestiegenen Ansprüchen auf professionelle Kulturangebote einerseits, einem konkurrierenden Erlebnismarkt und der Rückgewinnung des Öffentlichen - wo sind die Orte? wie sind die Kommunikationsmuster? - bzw. der Thematisierung gesellschaftlicher Entwicklung die Balance halten möchte. Ein Problem, das ja auch in der Kommunitarismusdebatte neue Aktualität gewinnt. Mein Motiv lautet: Soziokultur ist kreativer Ausdruck einer Suchbewegung zu neuer gesellschaftlicher Praxis. In der Rückbindung auf konkrete Projekte bedeutet das, in einzelnen Aktivitäten die Fragen nach gesellschaftlichen Bezügen behutsam ohne fertiges politisches Leitbild aufzuwerfen. Das passiert z.B., wenn in unserer Altentheatergruppe in unterhaltsamer Form eigene Lebensgeschichte in Verbindung mit Fragen nach Lebensperspektiven im Alter auf der Bühne thematisiert werden. Dafür eine Öffentlichkeit zu schaffen, erscheint mir ein lohnendes Anliegen. Der Stadtteil als sozialräumliche Kategorie ist dabei nicht überholt. Es gilt, daraus aber keine Zwangsjacke für Denken und Handeln zu schneidern, sondern offensiv im Umgang mit neuen Medien und Kommunikationstechniken den Dialog zu Lebensformen, -stilen und kulturellen Perspektiven unserer Gesellschaft zu entwickeln. Eine weitere Kritik lautet, soziokulturelle Zentren und Initiativen würden eher Sozialarbeit machen und seien nicht in der Lage, über Laienaktivitäten hinaus ästhetisch relevante Aktionen durchzuführen. Hier muß auf widersprüchliche Haltungen hingewiesen werden. Zwar trifft der Vorwurf in einem gewissen Umfang, hat aber häufig darin seinen Hintergrund, daß viel zu wenig Finanzmittel bereitstehen. Wenn dann zusätzliche Mittel eingefordert werden, lautet die abschlägige Mitteilung häufig: "Das ist ja nur ein stadtteilkulturelles Projekt. Macht das doch mit Laien" - ein verbreitetes Zwei-Klassen-Denken. Richtig ist, daß ästhetische Praxis nicht pädagogischen Zielen untergeordnet werden bzw. nicht zur Illustration schon vorab definierter Zustände und Haltungen verkommen darf. Ich kann das hier aber nur als Aufforderung umdenken, ganz entschieden für ein stärkeres Engagement professioneller Künstler im Umfeld soziokultureller Zentren und Initiativen einzutreten. Eine Öffnung der Debatte um soziokulturelle Perspektiven scheint mir auch auf anderer Ebene auf ein professionelles Niveau zu gehören. So wurden in den letzten Jahren auch in eher traditionellen Kulturinstituten und Bildungseinrichtungen wie Museen, Theatern, Bücherhallen und Schulen Programme entwickelt, stärker auf einzelne Zielgruppen und deren Lebensbedingungen einzugehen. Mit dem "Netzwerk kulturelle Bildung" haben hier Verteter aus soziokulturellen Zentren den Anfang gemacht, über gemeinsame Fortbildungsveranstaltungen den Erfahrungsaustausch zwischen diesen unterschiedlichen Einrichtungen zu fördern und Ideen für neue Projekte zu entwickeln. Beteiligt sind u.a. Stadtteilkulturzentren, die Öffentlichen Bücherhallen, Volkshochschule, Kulturpädagogischen Dienste an Museen und Theatern, Schulen und die sozialen Dienste in den Bezirken. In dieser Perspektive hat meiner Auffassung nach die Diskussion um den Stellenwert von Soziokultur gerade erst begonnen und ich würde mich freuen, wenn Sie bei Ihrem nächsten Ausflug nach Hamburg in einem Stadtteilkulturzentrum, Kulturladen, einer Geschichtswerkstatt oder einer anderen stadtteilkulturellen Initiative vorbeischauen und sich an dieser Diskussion beteiligen. Die Frage wird dann sein: "Wie hieß der Hahn im Hühnerhof der Motte?"

Werner Frömming - 3/95
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